TOPOS

Vernissageansprache
von Patricia Bieder

In den Händen und unter dem Blick von Monika Feucht (*1956, Luzern) verwandelt sich Schweres in Leichtes, Flüchtiges wird Dinghaft, Versteinertes beginnt zu tanzen. In ihrer ersten Ausstellung in der Galerie Rössli wird dies mit den filigranen, an kleinen Metallständer hängenden Formen in der Fensterauslage und den beiden grossformatigen Schmetterlings-Zeichnungen im dritten Raum eindrucksvoll sichtbar. Spiriti dei Marmi und Ephemer, so die Titel der beiden Werkgruppen, bilden die Klammer einer Ausstellung, in der die Verwandlung, die Metamorphose, immer wieder zum inhaltlichen und motivischen Programm wird.

Beginnen wir mit den zwei neuesten Zeichnungen, die Monika Feucht im Hinblick auf diese Ausstellung fertiggestellt hat. Sie zeigen je einen monumentalen Schmetterling vor dunklem Hintergrund (Nr. 11). Dabei fasziniert nicht nur das grosse Format, sondern auch die Präzision, mit der die Künstlerin den Falter im wahrsten Sinne des Wortes auf das Papier bannt. Beim Vergleich der beiden Zeichnungen fallt auf, dass Monika Feucht den Bleistift unterschiedlich intensiv eingesetzt hat, um die beiden federleichten Tiere zu zeichnen. Die mit zarten Strichen gezeichneten Insekten heben sich reizvoll vor dem dichten, metallisch glänzenden Grafithintergrund ab. Monika Feucht bildet mit dem Schmetterling ein Tier ab, das wie kein zweites die Metamorphose von der Raupe zum dekorativen Fluginsekt verkörpert. Die beiden Arbeiten üben aber auch deshalb einen grossen Reiz aus, weil sie einen Widerspruch in sich vereinen. Sie zeigen ein Motiv, das flüchtig, ephemer, leicht und flatterhaft ist, während der langsame Prozess des Zeichnens Ausdauer und Beharrlichkeit fordert. Strich um Strich muss auf dem Blatt gezogen werden. Wie der Titel Ephemer bereits andeutet, sind die beiden Zeichnungen eigentliche Zeit-Arbeiten, verbinden Flüchtigkeit und Dauer. Paare und Paarlaufe kommen im gesamten Schaffen von Monika Feucht häufig vor, so auch hier, denkt die Künstlerin die beiden Schmetterlinge doch zusammen, die sich vielleicht ein Stelldichein geben.

Wird hier ein an sich flüchtiges Motiv mittels unzähliger Striche gleichsam in das Papier eingeschrieben und auf dem Blatt fixiert, scheinen die hängenden Formen aus Papier in der Vitrine zu tanzen (Nr. 5). In der hier ausgestellten Konstellation erinnern die Silhouetten an Figuren eines Schattentheaters. Die Vorderseite der geformten Papiere ist mit Bleistift ausgeführt, die Rückseite wurde mit Tagesleuchtfarbe bemalt. Je nach Luftzug bewegen sich die Figuren mal mehr, mal weniger, und werfen einen feinen Schatten auf die Wand. Den Spiriti dei Marmi ist eine leichte, verspielte, ja poetische Wirkung eigen, doch der Titel verrät es: Der Ursprung der kleinen Geisterwesen ist der Marmor. 2018 weilte Monika Feucht anlässlich eines Stipendiums im bekannten Gastatelier des kürzlich verstorbenen Künstlers Schang Hutter in Genua. Die Marmorabdeckung des Küchentrogs regte Monika Feucht zu einer Zeichnung der Stein-Maserung an. Während des Zeichnens entdeckte sie darin Figuren, die sie herauslöste und ihnen gleichsam Leben einhauchte, sie im wahrsten Sinne des Wortes animierte. Schon immer waren Maler an vorgefundenen, zufälligen Formen interessiert. Im Zusammenhang mit den Spiriti dei Marmi etwa kommt hier der Rat von Leonardo da Vinci in den Sinn, der seine Schüler aufforderte, Gemäuer mit Flecken oder mit einem Gemisch aus verschiedenartigen Steinen anzusehen. «Wenn du dir gerade eine Landschaft ausdenken sollst, so kannst du dort Ähnlichkeiten zu verschiedenen Landschaften mit Bergen, Flüssen, Felsen, Baumen, grossen Ebenen, Tälern und Hügeln verschiedener Arten sehen; ebenso kannst du dort verschiedene Schlachten und Gestalten mit lebhaften Gebärden, seltsame Gesichter und Gewänder und unendlich viele Dinge sehen, die du dann in vollendeter Form und guter Gestalt wiedergeben kannst.»

Das Isolieren von Formen und Motiven und das Auslassen des Eindeutigen zeichnet die künstlerische Gestaltungsweise von Monika Feucht aus. Während vieler Jahre – und bis heute — beschäftigt sie sich mit dem Haar, das in seiner Linearität mit der gezeichneten Linie verwandt ist. War es zu Beginn der Hinterkopf samt Hals und Nacken, den die Künstlerin "porträtierte“, konzentrierte sie sich zunehmend auf das Haar und isolierte es vom Rest des Kopfes. Damit verselbständigte sich das Motiv des Haares zunehmend und wurde nicht mehr sofort lesbar. Abgelöst vom Kopf ruft das Haar, das mit so vielen Assoziationen verbunden ist, unterschiedliche Reaktionen hervor, die von Anziehung bis Ekel reichen. Ausgehend von ihrem eigenen abgeschnittenen Mädchenkopf, hat Monika Feucht neben Zeichnungen von Haarschöpfen sich in Objekten und Installationen auch dem echten Haar gewidmet. In der Ausstellung ist eine gezeichnete Pferdemahne zu entdecken, DNA Poly (2019, Nr. 4), wobei auch diese Arbeit bedingt durch das Herauslösen das Eindeutige verliert und verschiedene Assoziationen hervorruft. Die fliessenden Linienbewegungen – das Zeichnen auf diesen grossen Formaten erfordert nicht nur viel Konzentration, sondern fordert der Künstlerin auch physisch viel ab – lassen auch an Landschaftliches denken. Den Zeichnungen von Monika Feucht ist eine Ambiguität eigen, eine Uneindeutigkeit, die zu verschiedenen Lesarten anregt.

In Bedigliora entstand 2016 eine grosse, querformatige Landschaftszeichnung (Nr. 7). Auch wenn Monika Feucht widerstehen wollte, während ihres Aufenthalts im kleinen Tessinerdorf im Malcantone die Landschaft zeichnerisch festzuhalten und naturalistisch zu agieren, so war die Umgebung so prägend, dass die Künstlerin doch zum Stift griff und, wie sie sagt, sich «selbst zusah, wie sie es trotzdem tat». Die für das Tessin typisch bewaldeten Berge und Abhange, die unmittelbar in den See führen, erinnerten die Künstlerin an «pelzige Tierrucken”, die gleichsam in den See fallen. Paesaggio erinnert denn mit den fein geschwungenen Linien an eine sanfte Berg- und Hügellandschaft, gleichzeitig erwecken die Formen den Eindruck, als wurden hier haarige Wesen schlummern. Der Zeichnung ist etwas Verwunschenes eigen, ein surrealer Moment, der sich zwischen Eindeutigkeiten bewegt und auf einen Kippmoment hinauslauft.

Haariges lasst sich auch in den Landschaften der Serie Wo ich wirklich war (Nr. 1) entdecken. Die Zeichnungen erzählen von geographischen Orten, von inneren und äusseren Bildwelten der Künstlerin. Entstanden sind sie in Paris, doch galt die Aufmerksamkeit von Monika Feucht nicht ihrer damals aktuellen Umgebung, sondern sie dachte sich zurück nach Luzern, an ihren Wohnort, und da in das von ihrem Haus nahegelegenen Naturschutzgebiet, wo sie vor der Reise nach Paris kleine Welten fotografiert hatte. Diese Fotografien von Natur- und Landschaftseindrucken wurden ihr im pulsierenden Paris zur Bildvorlage. Fragmente, Landschaftliches, Wesenhaftes — ein Schlund, ein Auge? — verbinden sich zu Kompositionen, die sich durch unterschiedliche Qualitäten des Strichs auszeichnen und in denen der weisse Papiergrund zum wesentlichen Gestaltungselement wird. Vielmehr als in Paris war sie in den Zeichnungen drin, in den Landschaften, die entstanden und sich entwickelten, ohne dass die Künstlerin eine genaue Vorstellung der Komposition hatte. Sie schuf sich ihren eigenen Topos, ihren eigenen Raum, wo sie wirklich war.

Für das Werk von Monika Feucht ist es typisch, dass Landschaftliches, Organisches oder Pflanzliches ins Tierische kippt und vice versa, so auch in den beiden ausgestellten Bronzegüssen (Nr. 2, 10), deren «Äste» an ein Geweih oder einen Tierkopf erinnern und mit Bete de Somme (übersetzt: Tragtier) eine solche gedankliche Verbindung intensivieren.

Monika Feucht haucht den Dingen gleichsam Leben ein, macht sie lebendig, sodass sich manchmal fast der Eindruck einstellt, als wurde die Zeichnung pulsieren. Nichts ist wirklich, sondern alles nur durch Striche evoziert, die ganze Welten eröffnen und zu neuen Lesarten anregen. Damit sind wir am Schluss und beim Titel der Ausstellung, «Topos», angelangt. Wörtlich Übersetzt heisst der aus dem Griechischen stammende Begriff «Ort», «Platz», «Stelle». In der Literaturwissenschaft bedeutet «Topos» eine feste Wendung, ein feststehendes Bild oder einen vorgeprägten bildlichen Ausdruck. Im Werk von Monika Feucht wird «Topos» jedoch beweglich, verliert seine Festigkeit, wird zu diesem und jenem, kann hier und dort bedeuten.

August 2021
Patricia Bieder, Kunsthistorikerin