Nulle dies sine linea, mit Monika Feucht, Arlette Ochsner, Zimoun, Alex Dorici und Maja Rieder, Kuratiert von Claudia Waldner

Vernissageansprache 

von Annelise Zwez

Sehr geehrte Damen und Herren
Liebe Monika, Arlette und Maja, Alex und Zimoun

„Nulla dies sine linea“ – Kein Tag ohne Linie. Als ich den Ausstellungstitel in einem ersten Mail von Claudia Waldner las, dachte ich: Ups, das war doch der Titel der Eröffnungsausstellung des Zentrums Paul Klee in Bern, anno 2005. Kann man das einfach so übernehmen, ohne Bezug zu Paul Klee?? Denn für mich gehörte die Sentenz zu ihm. Völlig falsch. Nein, nein antwortete Claudia Waldner, „Nulla dies sine linea“ war das Lebensmotto von Adolf Menzel, einem Maler und Zeichner des 19. Jahrhunderts. Völlig falsch. Wie uns Google alsobald aufklärte, stammt der Satz – zumindest in seiner ersten Form – vom römischen Gelehrten Plinius dem Älteren, der im 1. Jh. nach Christus lebte und bis heute durch seine berühmte „ Historia naturalis“ nachhallt. Seine Feststellung, dass man nicht einen Tag tätig sein könne ohne eine Linie auszuführen, verselbständigte sich von Interpretation zu Interpretation bis sie dann um 1500 definitiv zu „Nulla dies sine linea“ wurde und von unzähligen Schriftgelehrten munter weiter gedreht und gewendet wurde bis sie bei Adolf Menzel und - 1938 – bei Paul Klee und 2014 bis Claudia Waldner landete.

War sie bei Plinius Resultat einer Überlegung, wurde sie später mehr und mehr zu einem Motto – nicht unähnlich dem „Carpe diem“ – pflücke den Tag. Auch Klee notierte den Satz im Zusammenhang mit einer Zeichnung mit dem Titel „süchtig“.
Wenn wir nun überlegen wie die fünf Künstlerinnen und Künstler, deren Ausstellung zum Thema ich heute eröffnen darf, umsetzen, so spüren wir schon beim ersten Rundgang die Vielfalt der Ansätze.

Das „süchtig“ kommt am ehesten beim Berner Künstler Zimoun zum Ausdruck. Allerdings nicht ihn selbst betreffend, sondern in einer medial umgesetzten Form, die das Unablässige, nicht zu Stoppende durch die Klangkomponente der antreibenden Motoren bald einmal vom heiteren Tanz der Aluminiumstäbe, den wir auf den ersten Blick wahrnehmen, in ein bedrängendes Perpetuum Mobile wendet.
Als ich vor einigen Tagen die Ausstellung vorbesichtigen durfte, elektrisierte mich Zimouns Arbeit sofort und mir wurde erst als jemand schliesslich die Stromzufuhr abstellte bewusst, in welche Unruhe mich die Arbeit versetzt hatte und wie wohltuend die plötzliche Ruhe danach war. Und im Gegensatz erhellte sich mir die zeitgenössische Bedeutung der Installation von Zimoun, die gleichsam ein Bild der Hektik unserer Zeit auf den verschiedensten Ebenen visualisiert. Wobei noch hinzukommt, dass das dauernde Schlagen der Stäbe auf die Wand in autopoïetischer (das heisst sich selbst herstellender) Weise eine weitere, nun horizontale Spur zeichnet, die einem Sediment gleich den wilden Tanz der Stäbe dokumentiert.

Eine völlig andere lineare Welt eröffnet die Auseinandersetzung mit den „DNA“-Zeichnungen auf Papier der Luzerner Künstlerin Monika Feucht. Zunächst sind da die völlig verschiedenen Medien, die nicht zuletzt auf die Kunstpraxis verschiedener Generationen hinweisen – zwischen den Geburtsjahren von Zimoun und Monika Feucht liegen knapp 20 Jahre. Primär hat der Unterschied aber etwas mit der Geschwindigkeit zu tun. Monika Feuchts vielhundertfach übereinandergelegte Linien zeigen uns Haare respektive einen behaarten Kopf von hinten, von oben. In der verdichteten, der konzentrierten Form ihrer Erscheinung sind sie gleichsam losgelöst vom Menschen, bilden einen Körper in sich, was auch die Titel der Arbeiten mit dem Kürzel DNA (den Molekülen, welche unsere Erbinformation enthalten) betonen. Indem jedes einzelne Haar unser „Programm“ beinhaltet, sind unsere Haare niemals still stehende Lebenslinien, die durch ihr Wachstum den Lauf der Zeit aufzeigen; jeden Tag wachsen unsere Haare um ca. 0.3 Millimeter.

Wenn wir jetzt gedanklich noch hinzunehmen, dass die DNA-Helixe natürlich nicht nur von der Geburt bis zum Tod mit uns gehen, sondern unsere gesamte Lebenslinie über Jahrtausende in sich tragen – wäre die Linie unterbrochen worden, gäbe es uns nicht! – dann haben die über Wochen hinweg mit einem feinen Minen-Bleistift gezogenen Linien in den Arbeiten von Monika Feucht wahrlich eine unglaubliche Dimension.

Damit wir nun philosophisch nicht gleich fortfliegen, holt uns die Aargauer Künstlerin Arlette Ochsner mit ihrem komplexen Linienprojekt wieder zurück auf den Boden. Hier markiert die Linie zunächst einmal eine Distanz – wahrscheinlich die häufigste Anwendung für Linien – die Distanz zwischen oben und unten, zwischen der Schweiz und dem Südpazifik quer durch die Mitte der Erdkugel. Sie misst 12'732 km. Sie stand im Zentrum des Projektes „downunder“, das seit gut 10 Jahren zwei Kugeln mit einem Durchmesser von anderthalb Metern hier und dort verbindet. Auf zwei Monitoren kann man das auch wichtige logistische und soziale Komponenten beinhaltende Projekt nacherleben. In „Nulla dies sine linea“ steht das in sich autonome und dennoch Bezug nehmende Projekt „theline“ im Zentrum. Ausgangspunkt ist der Erddurchmesser respektive die Distanz zwischen den zwei Kugeln, die bekannten 12'732 km. Die Künstlerin hat sie unterteilt in eine Million – eine Million! – A4-Blätter mit einer gestalteten Lineatur von 12,732 Metern. Immer 100 Blätter zeigen dabei dasselbe respektive leicht variierte Motiv. Am Ende werden es 10 000 Motive sein. Es sind Knäuel, Netze, Spiralen, Häkel-, Strick- und Stickmuster, ZigZag- und andere Konstruktionen, Kreise, Ovale usw. Immer tritt die Linie an der oberen Bildmitte ein, zieht ihre Bahn von 12,732 Metern und verlässt das Blatt an der unteren Bildmitte. Nun geht es aber nur bedingt um eine imposante Fleissarbeit, sondern darum die Blätter nach einem genau definierten Kosten-Schlüssel weltweit zu verkaufen und die Standorte in einem globalen Netzwerk zu markieren, ähnlich wie wir das von grafischen Darstellungen her kennen. Weil dies - heute selbstverständlich – nur online, nur im Internet zu verwirklichen ist, zeichnet Arlette Ochsner jedes Motiv mit einem speziellen Stift gleichzeitig auf ein A4-Papier wie auf einen gleich grossen Bildschirm, sodass sich das Werk zugleich materiell wie digital manifestiert. Wenn Sie, werte Anwesende, ein Blatt erwerben, sind sie somit danach nicht nur Besitzer respektive Besitzerin einer Zeichnung von Arlette Ochsner, sondern auch ein Punkt auf der Weltkarte von „theline“ und mit Aberhunderten von anderen Teilnehmer und - nehmerinnen verbunden. Noch steht die handfeste Verwirklichung dieses spannenden Konzept-Kunst-Projektes erst am Anfang, aber was noch nicht ist, kann es – mit Ausdauer und Einsatz - werden.

Im Rahmen der Ausstellung in Zofingen steht Arlette Ochsners Linie für eine reale Nutzungsstruktur und vertritt diesen Aspekt im künstlerischen Ganzen. Beschwingter, bewegter, ganz klar einem heutigen, jungen Lebensstil verbunden sind die Linien, die der 35-jährige Tessiner Alex Dorici mit seinen Scotch Drawings vertritt. Eigentlich kommt der in Como ausgebildete Künstler von der Malerei und der Druckgrafik her – ihretwegen reiste er 2005 nach Paris. Doch da wurde ihm bewusst, dass er damit seine Kollegen nicht erreicht, denn die zucken beim Wort „Ausstellung“ nur mit den Achseln. Also musste er aus den Räumen in die Stadt. Diese Haltung taucht in der Kunstgeschichte immer wieder auf, man denke zum Beispiel an die Kunst-Happenings der späten 1960er-Jahre. Dorici begann also damit, verschiedenfarbige Scotchbänder als Linien zu verwenden und damit neue, virtuelle Räume und Türme auf und durch Mauern, Fenster und Passagen hindurch, über Böden, Trottoirs, Strassen und Plätze hinweg zu zeichnen. So, dass alle Personen im Umfeld, ob drinnen oder draussen automatisch in die Aktion des Künstlers eingebunden sind, nicht umhin können, zu schauen und – vielleicht – das Phänomen von umbautem Raum und Zwischen-Raum oder Luft-Raum wahrzunehmen, in einem zweiten Schritt möglicherweise sogar an die stete Veränderung des urbanen Raumes zu denken. Skizzen gibt es keine im Vorfeld – in gewissem Sinn ist Dorici ein Aktionskünstler – aber im Gespräch wird deutlich spürbar wie sehr ihn Architektur und urbane Gestaltung interessieren, wie sehr er den speziell im Tessin zum Teil rücksichtlosen Umgang mit alter Bausubstanz bedauert, wie in seinem zeichnerischen Appell den Stadt-Raum wahrzunehmen auch die Sorge um dessen leichtsinnige Zerstörung mitschwingt.
Im Kontext von „Nulla Dies...“ hat seine Verwendung der Linie vielfach mit Umrissen zu tun. Eine Linie ist nicht nur ein geradliniger oder geschwungener Weg, sondern vielfach auch Rand, Begrenzung, Umrissline. Dorici bewegt sich dazwischen, seine Linien sind einmal Wegmarkierung, ein anderes mal definieren sie als Umrisse innere Formen.

Umrisslinien können wir auch in der Doppel-Arbeit der Solothurner/Basler Zeichnerin Maja Rieder ausmachen. Dort, wo sie den mit Graphit bearbeiteten Kern ausgeschnitten hat, bleiben auf dem Papier die Randlinien sichtbar. Ich denke allerdings nicht, dass uns das in Bezug auf das Thema der Linie weiter bringt. Claudia Waldner sagt, für sie stehe die Arbeit von Maja Rieder als Frage nach der Auflösung der Linie. Das heisst, es geht also auch nicht um die vage erkennbaren linearen Bewegungen des Armes mit dem graphit-schwangeren Lappen im dunklen, materiegebundenen Teil der Installation. Sondern eher um die Frage, was es mit dem Nichts auf sich hat, mit dem nur noch aufgrund der Umrisslinien erkennbaren weissen Feld, nachdem die Künstlerin die Zeichnung ausgeschnitten hat. Ist es einfach ein Nichts – sofern es das überhaupt gibt – oder weist es auf ein Nichts im Sinne einer Befreiung einer Öffnung hin zu derselben, durch das Auseinanderziehen gar noch erweiterten Form ohne materielle Bildschicht? Ist die Installation eine Interpretation des Höhlen-Gleichnis’ von Platon? Wäre die Linie daher materiegebunden und die Spiegelung im Nichts ihre Auflösung in eine immaterielle Dimension?
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Maja Rieder interpretatorisch so weit gehen will - andere Arbeiten der Künstlerin thematisieren, etwas leichter fassbar und nicht unähnlich den Arbeiten des gleichaltrigen Alex Dorici, Dialoge von hell und dunkel wie sie sich im Wechsel von kompakter Architektur und offenem Lichtraum zeigen. Was grundsätzlich nicht so weit weg ist von der Arbeit, welche die Künstlerin hier präsentiert, aber in dem von der Kuratorin evozierten Gedankengebäude doch deutlich eine Dimension weiter vorangetrieben ist. Fragen Sie die Künstlerin beim Apéro!

Lassen Sie mich nur noch kurz zusammenfassen:
Zwischen Plinius und Paul Klee wandelt sich die Sentenz von „Nulla dies sine linea“ von der Feststellung, dass wir keinen tätigen Tag durchlaufen können ohne eine Linie zu zeichnen hin zur Aufforderung keinen Tag vorbeigehen zu lassen ohne tätig gewesen zu sein und somit eine Linie gezogen zu haben. Die Künstler- und Künstlerinnen-Auswahl von Claudia Waldner scheint mir näher an Plinius denn an Menzel oder Klee. Denn sie setzt den Fokus nicht auf manische Züge, die Künstler zuweilen antreibt ununterbrochen zu zeichnen, zu schreiben, zu sammeln wie dies ein Dieter Roth zum Beispiel getan hat. Die Ausstellung präsentiert viel eher fünf verschiedene Werke von Schweizer Kunstschaffenden in welchen die Linie eine wichtige, jeweils andere Form, Funktion und Vision annimmt.
Diese Vielfalt zu erkennen und als Bereicherung wahrzunehmen ist das, was ich in meinen Worten an Sie weiterzugeben versuchte. Danke fürs Zuhören.

 

2015

*Annelise Zwez, Kunstkritikerin, lebt heute in Twann am Bielersee, früher in Lenzburg – schrieb in den 1970er- und 1980er-Jahren u.a. für alle Aargauer Tageszeitungen; auch fürs Zofinger Tagblatt. Später im Aargau nur noch für die Aargauer Zeitung. www.annelisezwez.ch