Die Schönheit wird ein Beben sein
Text von Peter Killer
Monika Feucht hat an der Jahresausstellung der Solothurner Künstlerinnen und Künstler 2007/08 die zweiteilige, aus Haaren gestickte Arbeit «Milchblumen» (2006) und die Fellzeichnung «Hasi II» (2007) gezeigt. Die beiden Werke sind auf den Seiten 26/31 und 63 abgebildet.
Bei Führungen im kleineren oder grösseren Rahmen habe ich immer wieder dasselbe erlebt: So fasziniert die Besucherinnen und Besucher auf die Fellzeichnung reagierten, so distanziert bis ablehnend auf die Haararbeit. Schön fandman zwar auch die «Milchblumen», aber das ästhetische Erlebnis wurde durch die Assoziationen, die das Menschenhaar auslösten, gebrochen. André Breton, der grosse Provokateur, hat postuliert: «Die Schönheit wird ein Beben sein, oder sie wird nicht sein.» Die Kunst von Monika Feucht kann dann und wann Beben von bedrohlicher Richterskalastärke auslösen.
Diese Beben reissen Risse in die glatte Oberfläche unserer an fast alles gewöhnten Wahrnehmung. Wenn die Risse breit genug sind, steigt der Vogel Gryff aus der Unterwelt, in dessen Gefieder eine goldene Feder fehlt und der unablässig schreit: «I schmöcke en Chrischt, und es sich mer, s’heb mer öpper am Stehl zehrt».
Und es folgt ihm Rapunzel, begleitet von ihrem Königssohngemahl und die beiden Zwillinge,die mit einem Strang – so dick wie ein Lindwurm – von blonden Haaren spielen, so fein wie gesponnenes Gold.Und Paul Celan kommt aus der Erdentiefe, ständig die gleichen Verse repetierend: «Der Tod ist ein Meister aus Deutschland / dein goldenes HaarMargarete / dein aschenes Haar Sulamith...»
Und die Ellermutter des Teufels mit den drei goldenen Haaren; aus ihrem seit Jahren nicht mehr gewaschenen Rock lugt das Glückskind hervor, seiner ihm wartenden Königskrone gewiss.
Und die Herren Freud und Jung, die sich beim Disputieren über die Symbolbedeutung der Haare einmal mehr in die Haare geraten.
Und der geblendete Selbstmordattentäter Simson, begleitet von Delia, die in ihren Händen die sieben Stränge des Haupthaars des nicht mehr Unbesiegbaren hält. Und die Löwen mit ihren prächtigen Mähnen, denen Simson nicht den Rachen entzwei gerissen hatte, und die dreihundert Füchse mit brennenden Fackeln an den buschigen Schwänzen, die die Kornfelder der Philister in Brand gesteckt haben.
Dann kommen die ehrenwerten Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm zum Vorschein, die eben die zweite Abteilung des vierten Bandes ihres «Deutschen Wörterbuchs » in Angriff genommen haben und dort vermerken: Da im deutschen Altertumlanges lockiges Haar Zeichen des freien, mündigen Mannes war, so ist das Abschneiden desselben Symbol der Unfreiheit; es wird verschnitten, dem der an Kindes statt angenommen wird, dem Knechte, und dem, der in den Stand der Knechtschaft tritt. Das Abscheren des Haupthaares ist ferner entehrende Strafe, auch bei gefallenen Weibern. Soldaten im Kriege schnittenen mitgelaufenen Dirnen, deren sie müde waren, das Haar ab und jagten sie fort. Unfreie, aber auch Narren tragen geschnittenes Haar.
Und Apollo im Sonnenwagen, der kaum hatte er den Erdschlund verlassen, sein Gefährt gegen den Nordpol lenkt und unablässig nach der goldhaarenen Daphne schreit. Und zwei Kinder, mit weit aufgerissenen Augen, die zum ersten Mal das Genitalhaar ihrer Eltern erblicken. Und Ilse Koch, die KZ-Kommandeuse von Buchenwald, die ihren Opfer eigenhändig jedes Körperhaar abschnitt. Und der kahle König Nisos von Megara, dem das Orakel prophezeit hatte, das er nur solange herrschen würde wie er sein goldblondes Haar trage, das die treulose Tochter dem Schlafenden schliesslich abrasiert hat.
Und Caspar David Friedrichs Gattin Christiane imlangen Leinenrock, entsprungen dem Bild «Frau am Fenster» in der Alten Nationalgalerie Berlin, die wie so viele ihrer Freundinnen aus Haar – das sie sich beim Frisör beschaffte – Broschen, Ringe und Ketten flocht, und die im Wäscheschrank das Buch «Frauenhaar und segenreicher Liebeszauber» aus dem Verlag Johann Andreas Kienreich zu Graz versteckt hielt.
Wahrlich, ein rechtes Beben lösen die Bilder Monika Feuchts aus.
Peter Killer